Gegen den Wind
Der schwere Start der Stromlinie in der Schweiz
SwissClassics, Heft März 2005
Von Hanspeter Bröhl
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Jaray wandelte den halben Stromlinienkörper ab. Er nahm vom Flugzeug den Tragflügelstumpf und vom Luftschiff den halben Luftschiffkörper. Dadurch entstand ein tragflügelprofilähnlicher Wagenaufbau mit waagrechtem Heckabschluß in drei Grundformen: a) bis zum Dach voll ausgerundet, b) vorne abgesetzt oder eingeschnürt, c) eine Kombinationsform mit aufgesetztem, stromlinienförmigem Oberteil. |
In ihren Anfangen war die
Aerodynamik im Automobilbau eher eine Angelegenheit für den «kleinen Kreis»: Konstrukteure und Carrosseriehersteller in Deutschland, Frankreich und Italien beschäftigten sich mit dem Thema. Aber auch für die eidgenössichen Autobauer war
Stromlinie ein Thema.
Stromlinienfahrzeuge wurden auch in der Schweiz gebaut. Allerdings war deren Konstrukteur, Oberingenieur
Paul Jaray, kein Schweizer, sondern österreichisch-ungarischer Herkunft. Der Flugzeug- und Zeppelin-Fachmann siedelte 1924 mit seiner Frau und drei Kindern von Friedrichshafen nach Brunnen am Vierwaldstättersee um. Dort eröffnete er sein technisches Zeichenbüro.
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Audi Stromlinie von Jaray |
Motorisiert war Jaray bereits: Er besass seinen ersten Stromlinienwagen, einen deutschen Ley T6, welcher im
Carrosseriebetrieb Spohn in Ravensburg 1922 gebaut worden war. Der Wagen sollte sein Ende 1964 finden, nach über 30 Jahren Stillstehen in der ehemaligen VW-Garage in Brunnen.
Vorerst erhielt aber die Stromlinien-Limousine (es wurden auch offene Rennwagen auf demselben Fahrgestell gebaut) die Zürcher Zulassung 620E: Paul Jaray hatte in der Zwischenzeit den Kaufmann
Paul Susmann und dessen Schwiegersohn
Christof A. Frey kennen gelernt. Die beiden interessierten sich für die Stomlinie auf vier Rädern, und so wurde bald die Stromlinie-Karosserie-Gesellschaft an der Stockerstrasse 25 in Zürich gegründet. Daher die Zürcher Nummer.
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Konstruktionsskizze eines Audi Stromlinienfahrzeugs |
Christof Frey und Paul Jaray zeigten ihre Errungenschaften nun auf ausgedehnten Propagandafahrten in der Schweiz. Auch die inzwischen in Deutschland gebauten Stromlinien Audi und Dixi wurden auf Fahrten intensiv vorgeführt, vor allem in der damaligen automobilen Hochburg Berlin, wo man damit gegen Staubentwicklung und für weniger Treibstoffverbrauch warb. Den beiden immer voraus fuhr der Ley mit Paul Jaray am Steuer.
Ein erstes «Schweizer» Produkt
Paul Susmann hatte Blut geleckt und wollte nun seinen eigenen Stromlinienwagen. So wurde ein
Chrysler-Fahrgestell vom Typ 72 beim Zürcher Carrosseriehersteller Haizer & Herrmann stromlinienförmig eingekleidet. Anders als die bisher gebauten Stromlinienfahrzeuge erhielt der Chrysler kein auslaufendes, sondern ein Steilheck. Die Reserveräder, vorher auf den vorderen Kotflügel platziert und so schutzlos der Witterung sowie der Verschmutzung ausgesetzt, wurden ins Wageninnere versetzt, links und rechts neben den vorderen Sitzen gegen die Front hin versenkt. Der Wagen behielt die ganze Breite, Kotflügel und Trittbretter waren in die Carrosserie einbezogen. Im Chrysler 72 war ein 4100 ccm grosser 6-Zylinder-Reihenmotor an der Arbeit.
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Chrysler-Modell aus Ebenholz, 1927/28 |
Die Höchstgeschwindigkeit des Autos betrug mit 130 km/h rund 30 km/h mehr als jene der Werkcarrosserie. Gewichtsmässig brachte der Windschlüpfrige 130 kg mehr auf die Waage, und er war mit einer Länge von 5,15 m 30 cm länger als das Werkmodell.
Bei Auslaufversuchen war das Verhältnis 616m zu 699m, und die Beschleunigung von 10 auf 80 km/h schaffte das Stomlinienmodell auf der Strecke Schlieren-Dietikon in 15 Sekunden, während sein «normaler» Kollege 22,7 Sekunden dafür brauchte. Auch im Verbrauch war der «Neue» sparsamer: Von Zürich nach Rapperswil und zurück brauchte er nur rund 6,5 Liter - im Vergleich zu 10,5 Litern bei der Werkcarrosserie.
Aber obwohl sämtliche Versuche und Tests zu Gunsten des Stromlinienförmigen ausgingen, blieb der für
Paul Susmann gebaute Stromlinien-Chrysler ein Einzelstück. Der Wagen blieb mit der Zürcher Automobilnummer 392 H bis 1932 im Besitz der Familie Susman. Dann musste Paul Susmann Konkurs seiner Firma für belgische Glashütten-Importe anmelden. Der Wagen kam in die offizielle Konkursmasse, das wurde schriftlich festgehalten. Wie es anschliessen dem Fahrzeug weiter erging, liegt im Dunklen, denn es lässt sich nicht mehr nachvollziehen, ob überhaupt und wenn ja wo er einen neuen Besitzer gefunden hatte. Hin und wieder soll der Stromlinien-Chrysler noch auf Luzerner Strassen gesehen worden sein.
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Chrysler 72 aus dem Jahr 1927/28 |
Erste Serienfertigung in der Tschechoslowakei
Langsam kam etwas Aero-Schwung in die Carrosserien - die natürlich immer noch als Einzelstücke hergestellt wurden. Paul Jaray tat sich mit dem Direktor des Montana-Verlags,
Walter de Haas, zusammen und die beiden gründeten am 23. September 1933 mit deutschem Kapital von l00.000 Franken die Aktiengesellschaft für Verkehrspatente (AVP) am Hirschengraben 2 in Luzern. Für die amerikanischen und kanadischen Jaray-Patente war die
Jaray Streamline Corporation of America, 400 Madison Avenue in New York City, zuständig.
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Jaray Chrysler, 1927/28 |
Für den Automobilsalon in Genf wurden für 1934 ein
Audi-2-Liter Front und ein
Mercedes Typ 200 (mit Rechtslenkung) im Auftrag der AVP beim Luzerner
Carrosserieschneider Huber & Brühwiler stromlinienförmig eingekleidet. Der Beachtungserfolg bei den Besuchern soll enorm gewesen sein, der finanzielle Erfolg weniger. Mit den beiden Fahrzeugen wurden nun europaweit Werbefahrten unternommen. Vor allem in der Tschechoslowakei war man sehr aufgeschlossen und interessiert, und so wurden bei der Firma Tatra die ersten Stromlinienfahrzeuge in Serie hergestellt.
Auch der Hersteller
Jawa brauchte für seine Kleinwagen, welche das 1000-Meilen-Rennen bestreiten sollten, schnellere Carrosserien. Dem Audi mit Paul Jaray am Steuer kam ein Lastwagen zu nahe ans Blech. Ausser dessen Schaden ist der Unfall glimpflich abgelaufen. Das Fahrzeug war innerhalb einer Woche startklar für die Weiterfahrt.
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Jaray Chrysler 72 bei Haizer & Herrmann in Zürich gebaut |
Unrühmliches Ende der Schweizer Stromlinienfahrzeuge
1936 kam der deutsche Aerodynamiker
Freiherr Reinhard von König-Fachsenfeld als Patentvertreter zu der AVP, um in deutschen Landen die Stromlinie verschiedenen Autoherstellern, welche mittlerweile Carrosserien in Grossserien herstellten, schmackhaft zu machen. Als Einzelexemplare wurden Adler- und BMW-Fahrgestelle für schnelleres oder sparsames Vorwärtskommen aerodynamisch bei Carrossiers eingekleidet. Im Oktober 1937 wurde die AG für Verkehrspatente durch Generalversammlungsbeschluss aufgelöst. Es war eine herbe Enttäuschung für die beiden Aerodynamiker, insbesondere für Paul Jaray.
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Stromlinien-Heck des Jaray Mercedes 200 aus dem Jahr 1934 |
In späteren Jahren wurde der Mecedes 200, von Walter de Haas gefahren, Ende der 40er Jahre gegen einen Chevrolet eingetauscht. Sein Ende nahte mit den ersten Autobahnkilometern um Luzern: Ein Folgebesitzer überdrehte den Motor. Ein Automechaniker-Lehrling durfte im Auftrag seines Chefs den Frust an diesem einmaligen Fahrzeug auslassen. Paul Jaray behielt den Audi, bis der Zylinderkopf nicht mehr abzuschleifen war. Übergab ihn dann Mitte der 50er Jahren einem Landwirt, welcher ihn darum gebeten hatte. Mit wahrscheinlich letzter Kraft des Audi wurde dieser noch an einen Baum gefahren und brannte aus. Aus war es damit mit den in der Schweiz gebauten Stromlinienfahrzeugen.
Die Aerodynamik wurde erst nach 1945 zum Allgemeingut. Nun wurden die Lampen in die Pontonform integriert, Kotflügel und Trittbretter standen nicht mehr dem Wind entgegen. Das auslaufende Jaray-Heck traf nicht den Geschmack der Kunden, das abgeschnittene
K-(Kamm)Heck integrierte sich mit der Zeit.
Aller Anfang ist manchmal mühsam... aber Pioniere braucht es auf jedem neuen Gebiet.
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Mercedes 200, stromlinienförmig eingekleidet von Carrosserie Huber & Brühwiler aus Luzern, 1955 |